Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund: Jüdische Lebenswelt Schweiz

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Titel
Jüdische Lebenswelt Schweiz – Vie et culture juives en Suisse.. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund – Cent ans Fédération suisse des communautés israélites


Herausgeber
Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund; Fédération suisse des communautés israélites
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patrick Kury, Historisches Institut, Universität Bern

Hätte man noch zu Beginn der 1990er Jahren in der Schweiz eine Umfrage gestartet, ob der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) ins Bewusstsein der Bevölkerung gedrungen sei, hätte nur eine verschwindend kleine Minderheit mit Ja geantwortet. Dies änderte sich schlagartig, als 1996 der Umgang der Schweiz mit der Geschichte des Nationalsozialismus Gegenstand heftiger internationaler Kritik wurde. Plötzlich stand der SIG als Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in der Schweiz im Zentrum des öffentlichen Interesses. Es galt, zwischen World Jewish Congress und Behörden, zwischen schweizerischen Bankenvertretern und meist amerikanischen Klägern zu vermitteln und gleichzeitig den vermehrt antisemitischen Angriffen im eigenen Land zu begegnen. Mit ihrer wegweisenden Losung «Gerechtigkeit für das jüdische Volk – Fairness gegenüber der Schweiz» plädierte der SIG unter seinem damaligen Präsidenten Rolf Bloch für einen angemessenen Blick auf nachrichtenlose Konti, Goldtransaktionen und die schweizerische Flüchtlingspolitik. So wurde der SIG nicht nur zu einem wichtigen Partner für die Schweizer Regierung und Behörden, sondern trug auch massgeblich dazu bei, dass die Schweiz in der Lage war, eine ihrer grossen Nachkriegskrisen zu meistern. Hintergrund dieser Krise bildete vor allem die helvetische Erinnerungskultur. Dazu zählt auch der Umgang mit dem komplexen, mitunter schwierigen schweizerisch-jüdischen Verhältnis.

Eine ebenso sorgsam wie aufwendig gestaltete Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes beleuchtet nun genau dieses Verhältnis und bietet Einblick in das vielfältige jüdische Leben in der Schweiz. Der Band, unter der Leitung von Gabrielle Rosenstein im Auftrag des SIG entstanden, vereint über dreissig Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft, die divergierende Sichtweisen, Lebensbezüge und Wahrnehmungen zum Judentum, zur Schweiz, zu Schweizer Juden, zu Israel, Europa und anderen Orten der Diaspora besitzen. Das Buch will Zeugnis von Selbstbewusstsein und Selbstbefragung sein. Entsprechend gehen die darin enthaltenen Beiträge individuellen Lebensentwürfen als auch allgemeineren Orientierungshorizonten nach, wie sie im pluralistischen Judentum heute existieren. Wo soviel Wert auf Vielfalt gelegt wird und so unterschiedliche Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, wie die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss oder der Politwissenschaftler und Historiker Dan Diner, löst der deutsche Titel «Jüdische Lebenswelt Schweiz» doch Erstaunen aus. Ein Plural wäre hier wohl angemessener gewesen.

Wie für eine Jubiläumsschrift üblich, finden sich verschiedene Überblicksdarstellungen. Doch stösst man auch auf bisher kaum Bekanntes und Neues. Neben anderen sind hier die Beiträge von Elio Bollag zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Tessin oder Willi Goetschels Artikel zu jüdischen Philosophen in der Schweiz zu nennen. Am Beispiel der Philosophie stellt Goetschel die für die Publikation leitenden Fragen: «Aufgrund welcher Kriterien und Kategorien ist von jüdischer Philosophie zu sprechen, und wenn dies anginge von jüdischer Philosophie in der Schweiz?» Welches sind «die Besonderheiten, in der sich schweizerische und jüdische Partikularitäten überschneiden» (S. 248)? Ähnlich fragt Jean Halperin nach, was es heute bedeutet, jüdisch zu sein.

Doch bereits die Frage, was unter «jüdisch» zu verstehen wäre, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ist dieses Wort religiös oder säkular zu verstehen, ist es national oder kulturell zu definieren, birgt es einen ethischen oder zivilisatorischen Wert, streiten sich darin historische oder aktuelle politische Deutungen? Doch wie sollen nun all diese Fragen nach jüdischen Identität(en), in einem Kleinstaat gestellt werden, der sich durch eine grosse konfessionelle, kulturelle und sprachliche Vielfalt auszeichnet und sich mit Selbstzuschreibungen immer schwer tat? Der Band antwortet mit der gleichen Vielfalt und berücksichtigt das Schaffen von Jüdinnen und Juden in der Schweiz in den Bereichen Recht (Arthur Cohn). Literatur und Theater (Charles Linsmayer), Musik (Walter Labhart) und bildende Kunst (Katarina Holländer). Illustriert wird das Ganze durch Kunstwerke von in der Schweiz lebenden jüdischen Künstlerinnen und Künstlern. Über tiefere Deutungsgehalte des Judentums und seiner Beziehung zur Welt und über den Dialog zu anderen Religionen geben Erörterungen philosophischer (Michel Bollag), psychologischer (Madeleine Dreyfus), staatspolitischer (Joseph Starobinski, Urs Altermatt), religionsgeschichtlicher (Ernst Ludwig Ehrlich) und essayistischer (Michael Kohn) Art Auskunft. Diana Pinto und Dan Diner blicken aus der Perspektive der Diaspora auf Israel. Der Historiker Diner stellt dabei die provokative These auf, ob möglicherweise die Rolle des Yishuv, also der zionistisch inspirierten Besiedlung Palästinas vor der Staatsgründung, für die Gründung des Staates Israels überzeichnet wird, und ob «die Katastrophe der Disaspora und das Schicksal der Überlebenden» nicht erheblich mehr zur Gründung Israels beigetragen haben, «als von der Geschichtschreibung allgemein eingestanden» (S. 352).

Im Mittelpunkt des schweizerisch-jüdischen Verhältnisses steht die eingangs erwähnte Auseinandersetzung um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Jacques Picard, Hans Michael Riemer, Rolf Bloch analysieren dieses Verhältnis aus unterschiedlicher Perspektive und Barbara Haering fragt nach den politischen Lehren aus dem Umgang mit der Geschichte. Die Überblicksdarstellungen zur Institutionengeschichte des SIG und des Verbands Schweizerisch Jüdischer Fürsorgen / Flüchtlingshilfen (VSJF) von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs für Zeitgeschichte (Michael Funk, Uriel Gast, Zsolt Keller, Daniel Gerson, Claudia Hoerschelmann) liefern hierzu die notwendige historische Tiefe.

Die Tatsache, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs nicht direkt an Kriegshandlungen beteiligt und Hort für Tausende vom Nationalsozialismus Verfolgte gewesen war, führte zu einem Neutralisieren, zu einer zuweilen selbstgefälligen Art im Umgang mit der Vergangenheit nach 1945. Verstrickungen und Mitverantwortung der Schweiz an den Verbrechen des Nationalsozialismus schienen – von Äusserungen weniger Intellektueller abgesehen – ausserhalb des Denkbaren zu liegen. Zwar war die offizielle Flüchtlingspolitik seit den fünfziger Jahren immer wieder Gegenstand von politischen und historischen Debatten. Doch wurde die Haltung der Schweiz als einmaliges, kriegsbedingtes Versagen innerhalb der langen «humanitären Tradition» der Schweiz gedeutet. Keinesfalls führte man die antijüdisch motivierte Abwehr auf das schweizerisch-jüdische Verhältnis zurück. Vielfach vergessen wird dabei auch, dass bereits die Emanzipation der Juden in der Schweiz verspätet und erst auf ausländischen Druck erfolgte. Diese im internationalen Vergleich wenig fortschrittliche Position erklärt sich paradoxerweise zumindest teilweise aus den fortschrittlich direktdemokratischen Strukturen der Schweiz. Jedenfalls leisteten sie einem emotionalen Politisieren Vorschub. So zeigt der Beitrag von Pascal Krauthammer zur rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung der Juden, dass die Schweiz ein Schächtverbot gerade aufgrund eines Volksbegehrens kennt. 1893 nahm die männliche Stimmbevölkerung diese erste so genannte Volksinitiative in der Geschichte der Schweiz mit grosser Mehrheit an. Die damalige Einschränkung der grundrechtlich garantierten Religionsfreiheit war einer der Hauptgründe für die Gründung des SIG im Jahre 1904. Doch auch hundert Jahre später ist das Schächtverbot, das im Jahre 1981 vom Gesetzgeber in ein Tierschutzgesetz überführt worden ist, Gegenstand von Debatten. Der Versuch des Bundesrats, das Schächtverbot aufzuheben, scheiterte im Jahre 2002 im vorparlamentarischen Stadium am Widerstand der Tier - schutzvereine und an einer wenig toleranten Stimmung bei breiten Bevölkerungs - schichten, so dass eine entsprechende Änderung schliesslich gar nicht in Erwägung gezogen worden ist. Diesem schweizerischem Mangel an religiöser Toleranz und der nach wie vor vorhandenen Judenfeindschaft, auf deren Geschichte Georg Kreis blickt, stehen interreligiöser Dialog, nachbarschaftliches Nebeneinander und erfolgreiche Karrieren gegenüber. Prominentestes Beispiel ist Ruth Dreifuss, die im Band selbst zu Wort kommt. Als zweite Frau überhaupt und als erste Jüdin zog sie 1992 in die Bundesregierung ein und übernahm 1999 das Amt der Bundes - präsidentin. Allgemein ist seit Mitte der neunziger Jahre zugleich ein stark ge - wachsenes Interesse an der Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz festzustellen. Das Institut für jüdische Studien der Universität Basel und eines an der Universität Luzern werden diesem Bedürfnis im akademischen Rahmen gerecht. Hier wird gelehrt und werden jüdische Lebenswelten der Schweiz theoriegeleitet erforscht.

Schliesslich beleuchten demographische (Ralph Weill) und interreligiöse (Ekkehard W. Stegemann) Beiträge die Stellung von Jüdinnen und Juden in der Schweiz im Allgemeinen oder der sefardischen Kultur im Besonderen (David Banon). Ralph Weingarten und Laurence Leitenberg fragen nach der Zukunft der Gemeinden in den einzelnen Sprachregionen. Die Darstellungen zum Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine (Elisabeth Weingarten-Guggenheim) sowie zur jüdischen Presse (Simon Erlanger) geben Auskunft über den Organisationsgrad und über Konjunkturen im jüdischen Presse- und Vereinsleben. Am Schluss der Festschrift findet sich ein besonders hilfreiches Instrument. Ein detailliertes Verzeichnis der heutigen jüdischen Gemeinden, Institutionen und Vereine in der Schweiz rundet das geglückte Werk ab, das sowohl Laien als auch Experten schweizerisch-jüdischer Geschichte und Kultur befriedigen wird.

Zitierweise:
Patrick Kury: Rezension zu: Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund – Fédération suisse des communautés israélites (Hrsg.): Jüdische Lebenswelt Schweiz – Vie et culture juives en Suisse. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund – Cent ans Fédération suisse des communautés israélites. Zürich Chronos Verlag 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 2, 2005, S. 242-245.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 2, 2005, S. 242-245.

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